Die Geliebte

 

© Janusz Leon Wiœniewski

 

(übersetzt von Katarina Skobodzinska)

 

Er kam herein. Manchmal schmiß er sein Sakko auf den Boden, manchmal hängte er es auf einem Kleiderbügel im Flur auf. Ohne Worte kam er auf mich zu, hob meinen Rock oder zog heftig meine Hose runter, stopfte seine Zunge zwischen meine Lippen, danach schob er meine Beine auseinander und steckte zwei Finger in mich rein. Manchmal war ich gar nicht feucht und wenn er nicht die richtigen Finger ausgewählt hatte, fühlte ich seinen Ehering in meiner Scheide.

 

 

Was hast du in solchen Momenten empfunden?

 

Ein Stacheldraht. Ganz einfach ein Stacheldraht. Verrosteter Stacheldraht in meiner Scheide und seine Zunge zwischen meinen Lippen. Jeder in diesem Ehering eingravierte Buchstabe war wie ein mich zerreißender, zerrender Stachel. Joanna 30.01.1978. Es begann zu schmerzen bei "J", erste Tränen kamen mir beim ersten "a", die "30" durchstach mich. Ich wurde am 30 Januar geboren. Am Tag seiner Trauung, bloß acht Jahre vorher. Wenn er an Geburtstagen zu mir kam, brachte er immer zwei Blumensträuße mit. Einen für mich. Mein Geburtstagsstrauß. Wunderschön. So einen, den man nur mit beiden Armen halten konnte. Der zweite für die Ehefrau. Er hatte ihn auf die Fensterbank in der Küche gelegt. So, damit man ihn verschweigt. Vortäuscht es sei sein Aktenkoffer. Ohne Bedeutung. So, damit er nicht im Wohnzimmer liegt, wenn wir uns auf dem Boden lieben, oder im Schlafzimmer, falls wir es geschafft hätten dorthin zu gelangen. Wenn alles vorbei war, er aufhörte mich zu küßen und sich umdrehte, stand ich vom Boden im Wohnzimmer auf, oder vom Bett im Schlafzimmer und ging nackt ins Bad. Meistens hatte er einfach dagelegen und geraucht. Wenn ich aus dem Bad zurückkam, durch den Flur, bemerkte ich diese Blumen. Ich ging zum Schrank im Flur, holte die größte Vase, die aus violettem Glas, goss Wasser herein, ging damit in die Küche und stellte dort die Blumenfür seine Ehefrau hin. Solche, die man nur mit beiden Armen halten konnte. Ebenfalls wunderschön. Weil er Blumen nie in Eile kauft. Nie. In Wirklichkeit kauft er die Blumen für sich, um den Anblick der Freude zu genießen, die er damit bereitet. Mir. Und seiner Ehefrau ebenfalls.

Die Rosen für sie waren immer purpurrot. Die Schleifen immer cremefarbig. Hinter der Folie zwischen den Blumen lag immer ein weißer Briefumschlag. Nicht zugeklebt. Einmal hatte ich ihn bereits in der Hand gehalten. Er lag im Zimmer, rauchte eine Zigarette, müde und entspannt von dem was wir einen Augenblick vorher getan hatten, und ich stand nackt in der Küche vor diesem purpurroten Rosenstrauß seiner Ehefrau und drückte den Umschlag an meine Brust, in dem Worte standen, die mich nur verletzen konnten. Ich erinnere mich noch, dass ich einen Blick auf diesen Umschlag warf und als ich das Wort Joanna mit seiner Handschrift geschrieben sah, spürte ich den Draht zum zweiten mal in mir. Aber diesmal am ganzen Körper, überall. Ich legte den Briefumschlag wieder hinter die Folie. Er fiel zwischen diepurpurroten Rosen für seine Ehefrau. Ich mußte mich von dieser Vase abwenden, um nicht mehr darauf zu schauen und stand mit dem Rücken zum Fenster gekehrt, nackt, zitternd vor Kälte und Schmerz, und vor Erniedrigung, und vor Mitleid mit mir selbst, und wartete bis das Zittern verging. Damit er mir nichtsanmerkt.

Dann kam ich zurück auf dem Boden oder ins Bett, kuschelte mich in ihn ein und vergaß alles Andere. Und er half mir dabei. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass er weiß, was mit mir in dieser Küche geschah und es wiedergutmachen will. So als ob er die Löcher von diesem stacheligen Draht mit Küssen füllen wollte. Und er füllte sie. Weil er Frauen genauso liebt, wie er ihnen Blumen kauft. Hauptsächlich deshalb, um Freude zu verspüren, wenn er sie beim Glücklichsein sieht. Und wahrscheinlich ist es das, was mich so sehr abhängig macht von ihm. Dieses Gefühl, dass man etwas "genauso Gutes" oder  etwas "Besseres" ohne ihn nicht erleben kann. Man kann es einfach nicht.

Manchmal dachte ich mir, dass es absurd ist. Dass es bloß meineunentwickelte Einbildungskraft ist. Einmal habe ich es gewagt und habe es einem meiner unzähligen Psychotherapeuten erzählt. Das, was ich zu hören bekam, war wie ein Vortrag, der mich wahrscheinlich in den Zustand des Staunens versetzen sollte. Er sagte, es habe nichts mit Einbildung zu tun und es sei "Ödipale Erscheinung des Wunsches Ehefrau seines Vaters zu sein, aus ihm sein Eigentum zu erschaffen, sowie des Wunsches Kinder von ihm zu bekommen". Kannst du dir das vorstellen?! So ein Arsch! So etwas hatte er mir gesagt. Mir, die keinen Vater mehr hatte seit dem zweiten Lebensjahr. Und vor dem zweiten Lebensjahr hatte sie ihn angeblich sechs Monate und dreiundzwanzig Tage lang, bis der Trawler, auf dem er ein Offizier gewesen ist gegen einen Eisberg stieß und bei Neufundland sank. Ich ging mitten des zweiten Therapiegeschprächs hinaus und hatte nicht einmal Lust darauf mit der Tür zu knallen! Er könnte sich zu gut fühlen, denken, er hätte es geschafft mich aufzuregen. "Ödipale Wunscherscheinung". So was! Eingebildeter Psycho im Schwarzen Rolli, einer Hose die wahrscheinlich nie eine Waschmaschine gesehen hatte und einem hässlichen Ohrring. So etwas mir zu sagen, die bereits gleich nach "Kinder aus Bullerbü" die "Psychologie der Frau" der genialen Horney gelesen hatte!Es war sicherlich keine "Ödipale Wunscherscheinung". Es waren seine Lippen. Ganz einfach. Und seine Hände waren es auch. Ich kuschelte mich in ihn und er berührte mich und küßte. Überall. Lippen, Finger, Ellenbogen, Haare, Knie, Füße, Rücken, Handgelenke, Ohren, Augen und Schenkel. Und man musste ihn unterbrechen. Damit er endlich mit dem Küssen aufhörte und in mich eindrang, bevor es spät wurde und er aufstehen, sich anziehen und zum Taxi runtergehen musste, das ihn zu seiner Ehefrau fuhr. Und wenn er dann aus dem Haus ging, den Strauß aus der Vase in der Küche nahm, hatte ich dieses deutliche Gefühl, dass man "etwas genauso Gutes" ohne ihn einfach nicht erleben kann. Man kann es einfach nicht. Und dass gerade ich dieses riesige Glück habe es mit ihm zu erleben. Und dass  es mir kein Psychologe erklären kann und selbst Horney, wenn sie noch gelebt hätte, es mir auch nicht hätte erklären können. Und dass sogar wenn sie es gekonnt hätte, ich es sowieso nicht hätte hören wollen.

Manchmal kehrte er vom Treppenhaus oder bereits von der Straße zurück und rannte in meinen vierten Stock, stürzte völlig außer Atem in die Wohnung, um mir dafür zu danken, dass ich die Blumen in die Vase gestellt habe. Und dann schmerzte es mich am meisten. Weil ich, genauso wie er auch, es doch verschweigen wollte. Vortäuschen dieser Strauß sei sein Aktenkoffer. Ohne Bedeutung. Das ist uns nie gelungen. Ich holte jedes Mal die violette Vase heraus und er kehrte jedes Mal zurück um sich zu bedanken.

Immer kehrte er zurück, weil er nichts als selbstverständlich ansieht. Und das ist es ebenfalls - und ist es immer gewesen - ein Teil des Unerreichbaren "genauso Guten", das man mit keinem anderen Mann erleben kann. Er macht sich über alles Gedanken, verneigt sich sorgsam, oder nimmt im schlimmsten Fall alles wahr. Er betrachtet Dankbarkeit als etwas, das man genauso ausdrücken sollte wie Hochachtung. Am liebsten sofort auf der Stelle. Und deshalb, ohne überhaupt zu ahnen, welchen Schmerz er mir damit bereitet, sturzte er außer Atem in den vierten Stock, küßte mich und dankte dafür, dass ich die Blumen in die Vase gestellt hatte. Und wenn er die Treppen zum Taxi hinunterlief, ging ich zurück ins Schlafzimmer oder ins Wohnzimmer, wo er mich vor einem Augenblick noch küßte, trank den Rest des Weins aus von meinem und seinem Glas aus, öffnete eine weitere Flasche, schenkte den Wein in beide Gläser ein und weinte. Wenn der Wein alle war, schlief ich auf dem Boden ein.

Manchmal am Morgen, immer noch betrunken, erwachte ich, zitternd vor Kälte und mußte ins Badezimmer gehen. Auf dem Rückweg, habe ich mein Spiegelbild gesehen. Wangen gekennzeichnet mit dunklen Streifen vom Rest der Schminke. Rote, trockene Flecken, vom Wein, ausgelaufen über meine Brüste, als meine Hände vor Schluchzen zitterten, oder als ich schon so betrunken war, dass ich den Wein verschüttete, wenn ich das Glas an meine Lippen führte. Haare klebten auf der Stirn und am Hals. Und als ich dieses Bild im Spiegel sah, bekam ich einen Anfall von Haß und Verachtung mir selbst gegenüber, gegenüber ihm, seiner Ehefrau und allen verdammten Rosen dieser Welt. Ich stürmte ins Wohnzimmer, packte diesen Strauß, den man nur mit beiden Armen halten konnte und schlug  damit gegen den Boden, die Möbel odergegen die Fensterbank. Weil auch ich Rosen von ihm bekam. Bloß weiße. Ich hörte auf um mich zu schlagen, als an den Stielen keine Blüten mehr waren. Erst dann fühlte ich mich beruhigt und ging schlafen. Ich erwachte  gegen Mittag und lief barfuß über die weißen Blüten, die im Wohnzimmer auf dem Boden lagen. Auf einigen waren Blutflecken von meinen mit Dornen zerstochenen Händen. Die gleichen Flecken waren immer auf der Bettwäsche. Jetzt werde ich mich immer daran erinnern, das Licht im Bad nicht anzuschalten am Morgen des 31. Januar.

Aber Rosen mag ich immer noch und wenn ich schon beruhigt bin an diesem 31. Januar und wenn ich am Abend Kamillentee trinke und seinen geliebten Cohen höre, dann denke ich, dass er eben wie eine Rose ist. Und eine Rose hat auch Dornen. Und ich denke, dass  man vor Trauer weinen kann darüber, dass eine Rose Dornen hat, aber genauso gut kann man auch vor Freude weinen, weil die Dornen Rosen haben. Dornen haben Rosen. Das ist wichtiger. Das ist erheblich wichtiger. Kaum jemand möchte Rosen zu Dornen haben...

Aber bei Cohen hat man solche Gedanken. Weil er so furchtbar traurig ist. Er hat Recht, dieser britischer Musikkritiker: Zu jeder Platte von Cohen sollten sie kostenlose Rasierklingen verteilen. Am Abend 31. Januar brauche ich eben Kamillentee und diesen Cohen. Nur bei seiner Musik und bei seinen Texten, trotz dieser typischen Standard - Trauer fällt es mir am leichtesten mit meiner eigenen  zurechtzukommen.

Und so ist das seit sechs Jahren. Seit sechs Jahren am 30. Januar treibt er mich zuerst in den Wahnsinn, mit Berühren, Küßen, Verwöhnen meiner Hände, und hinterher verletze ich sie selbst bis sie bluten mit den Dornen seiner Geburtstagsrosen. Aber hauptsächlich verletzen mich eigentlich die Buchstaben und Ziffern Joanna 30.01.1978, zart in der Innenseite seines Eheringes eingraviert. Sie verletzen mich wie ein stacheliger Draht im Unterleib.

 

Und warum läßt du Dich darauf ein?

 

Und Du fragst es mich auch?! Meine Mutter fragt mich danach, wenn ich an Feiertagen zu ihr fahre. Und immer weint sie dabei. Und all meine Psychos, außer dem mit der "Ödipalen Wunscherscheinung" haben mich ständig danach gefragt und fragen es immer noch. Ich verstehe vollkommen die Intention, dennoch ist die Frage nicht richtig gestellt. Denn ich habe gar nicht das Gefühl, dass ich mich auf etwas einlasse. Man kann sich doch nicht auf etwas einlassen, was man braucht, oder was man haben will, richtig?

Aber abgesehen von der Frage und deren Intention. Ich bleibe bei ihm - weil es allen wahrscheinlich um dieses Bleiben in dieser Frage geht – hauptsächlich darum, weil ich ihn so sehr liebe, dass mir manchmal dabei sogar der Atem stehen bleibt. Manchmal wünsche ich  mir, dass er mich verläßt ohne mir dabei wehzutun. Ich weiß, dass es unmöglich ist. Er wird mich nicht verlassen. Ich weiß das einfach. Er ist der treuste Liebhaber überhaupt. Er hat nur mich und seine Ehefrau. Und er ist uns beiden treu. Er wird erst dann weggehen, wenn ich es ihm sage, oder wenn ich einen anderen Mann finde. Aber ich will es ihm nicht sagen. Und das mit anderen Männern funktioniert auch nicht. Ich weiß das, weil ich einige „andere Männer“ hatte. Hauptsächlich um ihn zu vergessen.

Das war vor zwei Jahren. Er ist zu irgendeiner Schulung nach Brüssel gefahren. Seit er bei diesem Internet – Unternehmen war, mußte er oft irgendwohin fahren. In der letzten Woche sollte ich zu ihm fliegen. Wir haben alles bereits zwei Monate vor seiner Abreise sorgfältig vorbereitet. Alleine schon dieses Planen versetzte mich in einen Zustand der Ekstase. Als er bereits in Brüssel ankam, rief er täglich an. Wir sollten dort sieben Tage und acht Nächte gemeinsam verbringen. Ich war unglaublich glücklich darüber. Mit der Pille habe ich meine Periode so verschoben, dass sie auf gar keinen Fall zu der Zeit in Brüssel kommt. Ich sollte am Freitag fliegen, am Mittwoch bekam ich Fieber. Über 39 Grad. Ich habe vor Wut geweint. Wenn ich es gekonnt hätte, würde ich die Kollegin, die diese Grippe mit ins Büro geschleppt und mich angesteckt hat eigenhändig erwürgen. Löffelweise habe ich Vitamin C–Pulver gegessen, Dutzende von Aspirin geschluckt, habe eine Tüte voller Orangen und Zitronen mit mir herumgetragen, die ich, ohne Zucker darüber zu streuen, wie Äpfel gegessen habe.

 

[ TEIL # 2]

 

Ich habe mir vorgenommen an den sieben Tagen und acht Nächten in Brüssel gesund zu sein. Es

war wie ein Projekt auf der Arbeit: "Brüssel- oder gesund um jeden Preis". Als nichts wirkte, nahm ich alle Antibiotika, die ich im Badezimmerschrank fand. Die meisten waren bereits verfallen, weil ich normalerweise nie krank bin. An dem Mittwoch, als das Antibiotikum ausging

und ich immer noch fast 39 Grad Fieber hatte, sowie das Gefühl, unter meinen Schultern ein Messer stecken zu haben, das sich beim Husten bewegte, ging ich in eine private Arztpraxis in der Nähe meines Büros. Ich stand in einem schmalen Flur, der zu den Sprechzimmern führte. In dem Sessel vor der Tür des Gynäkologen saß seine Ehefrau und las ein Buch. Neben dem Fenster, an einem kleinen Tisch, auf dem Buntstifte und Knete lagen, zeichnete seine Tochter etwas auf ein großes Blatt Papier. Als ich herein kam hob sie ihren Kopf und lächelte mich an. Sie lächelte genauso wie er. Mit dem ganzen Gesicht. Und zwinkerte genauso wie er mit den Augen. Meine Hände fingen an zu zittern. In diesem Moment wurde seine Frau von einer

Krankenschwester aufgerufen. Sie legte das Buch zur Seite, stand auf, sagte ihrer Tochter etwas und während sie mich anlächelte, zeigte sie mit der Hand auf den leeren Sessel. Als sie durch den schmalen Flur an mir vorbeiging, berührte mich ihr riesiger Bauch. Sie befand sich in den letzten Wochen der Schwangerschaft. Mir wurde dunkel vor den Augen. Ich ging zum Fenster und ohne auf die Proteste der anderen zu achten, öffnete ich es weit und begann die Luft tief einzuatmen. Jemand holte die Krankenschwester. Einen Moment später, benommen von der frischen Luft, fühlte ich mich schon besser. Ich schloß das Fenster und ging raus. Seine Tochter schaute mich erschrocken an. Sie verstand nicht was geschah.

        Ich brauchte kein Antibiotikum mehr. Auf dem Rückweg schmiss ich alle Orangen und Zitronen in eine Mülltonne auf der Straße. In eine Andere alle Aspirintabletten. Plötzlich wollte ich sehr krank werden. Ich wollte erst sterbenskrank werden und dann mich selbst irgendwo begraben. So, dass mich keiner jemals wiederfinden kann. Den Plüschelch aus meiner Kindheit

mitnehmen, sich dran kuscheln und mich an irgendeiner völlig verödeten Wiese außerhalb der Stadt begraben.

      Als ich zu Hause ankam, hatte ich keine Kraft, um in meine Wohnung im vierten Stock hinaufzusteigen. In jeder Etage mußte ich anhalten um mich auszuruhen. 15 Minuten lang, oder länger. Und plötzlich war ich sehr krank. So wie ich es mir wünschte. Ich schlief ein auf dem Sofa im Wohnzimmer. Mit allen meinen Kleidern. Ich hatte keine Kraft um mich auszuziehen und ins Schlafzimmer zu gehen. Ich träumte von seiner Tochter, die sich aus Angst vor mir im Kleiderschrank versteckte und mit meinem Plüschelch spielte, dem sie dabei die kleinen Plastikaugen mit einer Gabel ausstach.

      Ich wachte auf nach achtzehn Stunden. Stand auf, nahm das Ticket nach Brüssel und verbrannte es über dem Waschbecken im Bad. Dann zog ich das Telefonkabel aus der Steckdose heraus. Vorher bestellte ich einen Schlosser und wechselte alle Türschlösser in meiner Wohnung. Damit er nie wieder hierher kommen konnte. Nachdem der Schlosser wegging, schloß ich die Tür mit dem neuen Schlüssel zu und versteckte ihn unter meinem Kissen. An diesem Tag nahm ich mir auch vor, sobald die Grippe geheilt war, einen anderen Mann zu finden und dann von diesem schwanger zu werden. Und das wird um einiges sicherer, durch das Wechseln der Türschlösser.

      Anfangs habe ich entweder geweint oder geschlafen. Dann flog die Maschine nach Brüssel ohne mich los. An dem selben Tag verging langsam der Husten und dieses Messer unter meinen Schultern fiel heraus. Als das Fieber sank wurde mir bewußt, dass er mit Sicherheit nicht weiß, warum mein Telefon nicht funktionierte und warum ich nicht in diesem Flieger saß. Und warum ich nicht im Büro bin. Ich war fest davon überzeugt, dass das Klingeln und Klopfen an der Tür, das ich hörte aber völlig ignorierte, mit Sicherheit einer seiner Freunde war, oder er selber.

      Meine sieben Tage und acht Nächte in Brüssel vergingen und ich schritt langsam von der Phase "Wie konnte er mir so etwas Gemeines antun?" in die Phase "Welche Gemeinheit hatte er mir eigentlich angetan?" hinüber. Was habe ich mir eigentlich vorgestellt? Dass er ins Bett zur Ehefrau zurückkommt und sie Schach spielen oder sich nächtelang Fotos aus der Jugend anschauen? Um so mehr, weil es ja nicht so war, dass sie die "über - zwei - Zentner -

Hausmutti" ist und ich die "90-60-90“ - Geliebte - zehn - Straßen- weiter". Seine Frau war schön. Nicht das Model. Außerdem habe ich  nie so gedacht. Aber das, dass sie so schön ist, wie dort in diesem Wartezimmer, kurz vor der Geburt, verletzte mich tief. Und dieser Bauch, als sie sich durch den schmalen Gang durchquetschte. Als sie meinen Bauch mit ihrem berührte, mit seinem Kind darin, hatte ich ein Gefühl, als ob mir jemand mit heißem Eisen dieses Joanna 30.01.1978 über den Bauchnabel einbrennt. So wie man Schafe oder Kühe markiert.

        Meinem Gehirn - wahrscheinlich aus den Büchern herausgelesen und mit eigenem Willen interpretiert - prägte ich ein psychologisches Schema ein, in dem seine Ehefrau beinahe seiner Mutter gleicht. Asexuell. Konkurrentin, aber so wie Schwiegermütter Konkurrentinnen für immer bleiben. So ein völlig absurdes Modell - Freud könnte stolz auf mich sein - stellte ich mir zusammen. Ich fragte ihn nie danach, ob er mit seiner Frau schläft. Ebenfalls fragte ich nie danach, ob er mit ihr weitere Kinder haben möchte. Ich nahm einfach an, irgendwie unbewusst, dass wenn er sein Sperma in mir hinterlässt, es unangemessen gewesen wäre es in einer anderen Frau zu hinterlassen. Besonderes in einer so heiligen und asexuellen wie seine Ehefrau.

        Für mich war sie zum Teil von einem heiligen Kult umgeben. Die Hure sollte ausschliesslich ich sein. Sie hatte das Recht auf seine Hochachtung und die alltäglichen Sitten, ich dafür sollte ausschliesslich das Recht auf seine Zärtlichkeiten und seinen Körper haben. Das, was ein Psychoanalytiker als Nervosität diagnostizierte, verwechselte ich mit einem Lebensmodell, und

genau dieses Modell  zerbrach mit Krach in kleine Brocken im Wartezimmer beim Arzt, als der Bauch seiner schwangeren Ehefrau den meinen berührte. Und eigentlich sollte ich wütend auf mich sein, weil ich mir solche utopischen Modelle zusammenstelle. Aber ich war wütend auf ihn. Weil er anstatt zu Ehren seiner Frau zu beten, mit ihr ins Bett ging. Was mit dem riesigen Bauch evident zur Schau gestellt wurde.

     Ausserdem habe ich die Sexualität in meiner Beziehung mit ihm deutlich

überschätzt. Und das ist allgemein. Ganz genau so. Allgemein und durchschnittlich. Die Sexualität ist eines der meist verbreiteten, einfachsten, billigsten Mitteln sich Gefühle zu sichern. Und deshalb ist sie so leicht zu überschätzen. Und aus diesem Grund wahrscheinlich kehren so

viele Männer zum Mittagessen nach Hause zurück, nach dem Schmaus aber laufen sie zu den Prostituierten.

      Und auch ich überschätzte diese Sexualität. Es passierte auch mir. Mir, regulärer Patientin der Psychotherapeuten. Weil  ich so starke Sehnsucht nach Gefühlen hatte. Und deshalb, als meine "Brüssel - Grippe" verschwand, ging ich auf die Jagd danach. Alleinstehende, intelligente Frau um die Dreissig, die dringend Gefühle finden möchte in diesem Dschungel draussen, wird selten überhaupt etwas fangen. Eher wird sie als Beute gefangen. Und das meistens von solchen

Jägern, die entweder blind schiessen, oder solchen, die eine Zielscheibe im Freizeitpark mit echter Jagd verwechseln und eine Frau wie die Plastiknelken oder Gänseblümchen betrachten, in die sie aus einem Luftgewehr an diesem Schiessstand trafen.

      Eine Frau über Dreissig erscheint in der Regel als interessant für Fünfzigjährige und älter, oder immer noch für Achtzehnjährige und darunter. Das ist eine Tatsache über die ich zuerst in der "Cosmopolitan", dann in "Psychologie Heute" las und die ich mit eigener Haut zu spüren bekam. Und das an ihren unterschiedlichsten Stellen.

      Weil es den meisten dieser Männer hauptsächlich um meine Haut ging. Nur einem - so kam es mir vor - ging es um die Seele. Zumindest sagte er das und wollte mich anfangs gar nicht ausziehen, als ich ihn nach dem zweiten Abendessen mit zu mir nahm. Ich lies ihm Zeit. Er konnte sogar einen Monolog über seine Person abbrechen und mir gestatten etwas von meiner eigenen Welt zu erzählen. Nach etwa zwei Wochen, nach einem Konzert in der Philharmonie kamen wir mit einem Taxi zu mir. Es sollte endlich intim werden, weil es ein Konzert von Brahms war und Brahms für mich unheimlich sexy ist und meine Rezeptoren beeinflusst. Aber es wurde nichts daraus. An diesem Abend erwischte ich ihn im Bad, wie er aus dem Wäschekorb meinen Slip herausholte und daran roch. Und da wusste ich, dass sogar wenn es ihm um die Seele geht, dann mit Sicherheit nicht um meine.

      Nach einiger Zeit versöhnte ich mich mit der Tatsache, dass man gut aussehen muss, schlank sein, frisch gebadet und schön riechen sowie sehr früh minimum das Petting zulassen sollte um einen Mann für eine Weile bei sich zu "parken". So ein junger,  polnischer, sehr "aus Warschau", sexueller Kapitalismus mit grossem Angebot und kontrollierter Nachfrage. Interessant, daß ausschliesslich verheiratete Männer in der Lage waren sich mit der Tatsache abzufinden, daß für mich Intimität keine mit DHL angeforderte Samstagabendzustellung ist. Aber verheiratete Männer haben ihre Mittagessenmadonnen zu Hause und ich gab nicht so viel Geld für den Schlosser aus, um die Schlösser erneut zu wechseln.

      Die älteren, meistens wegen gerichtlichen Entscheidungen nicht verheiratet und die sehr jungen, nicht verheiratet aus Überzeugung, nicht alle natürlich, aber grösstenteils, hatten eine gemeinsame Eigenschaft : wenn sie schon keine  Schwierigkeiten wegen den Erektionen hatten, dann hatten sie Erektionen wegen den Schwierigkeiten.

     Die jungen, das waren meistens Hormoniten. So nannte ich sie. Völlig auf Testosteron und Adrenalin. Sie wussten nicht genau was sie tun, aber sie taten es die ganze Nacht lang. Die Schwierigkeiten mit ihren Erektionen beruhten darauf, dass sie diese nach fünfzehn Minuten wieder bekamen, für mich aber daraus nichts resultierte. Sie dagegen nahmen an - ihnen gebührte dafür eine Medaille. Am Morgen danach gingen sie stolz wie Gladiatoren nach

Hause und ich hatte ein von ihrem Zweitagebart zerkratztes Gesicht und eine von ihrem Adrenalin angeschwollene Scheide.

     Die in meinem Alter erzählten zuerst nächtelang wer sie bereits sind, oder wer sie in Kürze sein werden und gleich darauf bekamen sie mässige, normale Erektionen, dafür waren sie sehr belesen. Sie lasen all die Gebrauchsanweisungen des Kitzlers, G - Punktes, wussten alles über das Vorspiel sowie Oxytocin und behandelten mich wie ein Heimkino. Drücke hier drauf, drehe an der Kugel dort, halte zwei Knöpfe mindestens fünf Sekunden lang gedrückt und du erhältst den besten Klang und die beste Bildqualität. Aber das funktioniert nicht. Frauen sind keine Ikea -Schränke, die gemäß Instruktion zu montieren sind.

     Die um die Fünfzig waren überzeugt, daß sie genauso schön und genauso wichtig waren, wie all die Titel oder Positionen auf ihren Visitenkarten. Sie hatten mehr graue Haare, aber Ruhe hatten sie auch mehr. Sie konnten länger warten, haben mehr Bücher gelesen, hatten mehr von ihren ex – Frauen zu erzählen und immer bezahlten sie alle Rechnungen. Und später in der Nacht

waren sie mit dem Verursachen, Erhalten oder Verstärken ihrer Erektion so beschäftigt, dass sie völlig vergassen wozu sie diese eigentlich verursachen, erhalten oder verstärken wollten. Sie vergassen mich völlig, konzentriert auf ihrem Vierzehn Zentimeter oder weniger grossem Ego.

Hinterher am Morgen fand ich in der Tasche ihre jämmerlichen Visitenkarten, auf die sie so stolz waren.

     Genau 182. Tage nachdem ich die Türschlösser in meiner Wohnung wechselte, fuhr ich beruflich vom Hauptbahnhof in Warschau nach Torun, um irgendein Interview für meine Zeitung vorzubereiten. Als ich die Tickets bezahlte, zog ich einen Zweihunderterschein aus dem Portemonnaie und die Kassiererin hatte kein Restgeld mehr in der Kasse. Ich drehte mich um, um die Person in der Schlange hinter mir danach zu fragen, ob diese mir den Geldschein wechseln könnte. Er stand hinter mir. Schweigend nahm er die Zweihundert Zloty aus meiner vom Erstaunen und Angst ersteiften Hand, ging zur Kasse und sagte, dass er auch nach Torun fährt und dass er sich einen Platz neben mir wünscht. Die Kassiererin reichte ihm zwei Fahrkarten und gab den Rest heraus. Er nahm meinen Koffer und schweigend gingen wir zum Bahnsteig. Und als wir die Rolltreppe zum Gleis, von dem der Zug nach Torun abreisen sollte hinunterfuhren, stellte er sich nah hinter mich und begann schneller zu atmen und dann meinen Hals zu küssen und meine Haare in seinen Mund zu nehmen und an ihnen zart zu ziehen. Und weißt Du was ich damals empfand? Irgendwann las ich eine Reportage über Drogenabhängige. Dort ging es unter anderem auch darum, wie sich ein Abhängiger fühlte, der über längere Zeit

nichts nehmen konnte, weil er zum Beispiel im Gefängnis war. Dann, wenn er endlich seine Portion LSD oder seine Linie hat und sie in die Nase zieht, oder in die Ader spritzt, verspürt er eine Art Orgasmus oder Sättigung am Weihnachtsfest, nach all den Wochen des Hungerns. Auf dieser Treppe zum Gleis des Zuges nach Torun, als er meinen Hals mit seinen Lippen berührte -

empfand ich genau das. Und dann, ganz kurz, erschreckte mich der Gedanke, dass ich vielleicht Liebe mit Abhängigkeit von ihm verwechsle. So einer Art Drogenabhängigkeit. Wie vom LSD, Morphium oder vom Valium zum Beispiel. Und das erschien mir keineswegs absurd.

     Von diesem Torun an, hatte er wieder die Schlüssel zu meiner Wohnung. Die neuen. Und wieder kam er Freitags an dem Parkplatz vor mein Büro angefahren und nahm mich mit auf Hel, nach Ustka oder in die Bieszczady. Inzwischen brachte seine Ehefrau die zweite Tochter zur Welt, Natalia.

 

        Und was ist so besonderes an ihm?

 

      Besonderes an ihm? Wie denn was?! Alles an ihm ist besonders. Bereits die ersten Stunden seiner Anwesenheit in meinem leben waren besonders. Zum ersten mal sah ich ihn, in Tränen überströmt in einer Leichenhalle in Italien.

     Das war im letzten Jahr meines Studiums. Ich schrieb meine Magisterarbeit über das Lebenswerk eines Nobelpreisträgers aus den siebziger Jahren, den Poeten Eugene Montale. So wählte ich es mir aus. Ich, Romanistikstudentin angetan von Montales Poesie, beschloss über italienische Poesie in Französisch zu schreiben. Monika überzeugte mich zu der Ausreise nach Ligurien in Italien. Ich verlegte den Termin der Dissertation auf September und mit dem Vorhaben das gesamte Ligurien zu besichtigen fuhren wir nach Genua. Als Monika bemerkte, dass ich wegen dem verschobenen Dissertationstermin, vom schlechten Gewissen verfolgt wurde, beruhigte sie mich : "Niemals kann eine Arbeit über Montale überzeugend wirken, wenn sich der Mensch nicht wenigstens ein Mal an Montales Geburtsort Genua mit Wein

betrinkt. Sieh es, als eine Studienreise - sie lächelte - und vergiss nicht, der Wein geht auf mich."

      Zuerst sollten wir mit kellnern etwas Geld verdienen und dann zwei "Studienwochen" verbringen, dabei Ligurien von Cinque Terre im Osten bis zum Monako im Westen besichtigen und wie es Monika formulierte "sich von den Stränden nicht weiter als Fünf Kilometer und länger als Fünf Stunden entfernen".

 

- Fortsetzung folgt -

 

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